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Fotostrecke und Text Dieselstrasse

Fotostrecke zu der Ausstellung ‚Vom Versuch eine Linie zu ziehen

Ausstellungseröffnung 14.11.2018, Dieselstraße Esslingen, 19.30 Uhr

Vom Versuch eine Linie zu ziehen. Frieder Kerler und Bertl Zagst

„Die Schönheit ist eine Linie“ – so der Titel, der 2014 erschienenen letzten Publikation des renommierten Kunsthistorikers Werner Hofmann. In dreizehn Kapiteln spürt Hofmann darin speziell der bewegten oder geschlängelten Linie in der Kunst seit der Antike bis in die Gegenwart nach. Als sich der akademisch geprägte Schönheitsbegriff im 19. Jahrhundert langsam wandelte, kam die große Zeit der bewegten Linie, die z.B. in den Bilderfindungen und dem Design des Jugendstil kulminierte, später ihre Dynamik in den Lineamenten Paul Klees entfaltete oder sich in der dritten Dimension z.B. in den monumentalen Skulpturen des Berliner Bildhauerpaares Matschinksy-Denninghof visualisierte.

Heute Abend wird hier in der Dieselstraße eine Ausstellung eröffnet, deren Werke nicht behaupten den ultimativen Zugang zur künstlerischen Linie gefunden zu haben. Schon der Titel der Schau: „Vom Versuch eine Linie zu ziehen“, impliziert den vorsichtigen, experimentellen, nicht abgeschlossenen Umgang mit diesem ältesten aller künstlerischen Ausdrucksmittel. Beide Künstler sind jedoch auf der Suche nach den Möglichkeiten der Linie fündig geworden und haben ihr mit den Mitteln digitaler Fotografie, der Malerei, der Zeichnung und durch ihre Transformation in konkrete Objekte ganz eigene Qualitäten abgerungen.

Bertl Zagst, geboren in Kirchheim, Frieder Kerler, geboren in Göppingen, beide Jahrgang 1951, kennen sich schon seit Studienzeiten an der Kunstakademie in Stuttgart, wo sie zwischen 1972 und 1978 fast zeitgleich studierten. Frieder Kerler bei Dieter Groß, Sotirios Michou und K.R.H. Sonderborg, Bertl Zagst ebenfalls bei Dieter Groß, Christoff Schellenberger und Rudolf Hoflehner. Ihre Wege kreuzten sich erneut nach Abschluss der Akademiezeit am Lehrerseminar in Esslingen Ende der 70er Jahre. Beide Künstler suchten früh nach Horizonterweiterung: Kerler setzte der seinerzeit wenig theoriebasierten Künstlerausbildung ein universitäres Studium der empirischen Kulturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft entgegen, Zagst entschied sich schon bald nach Beginn seiner Pädagogenlaufbahn, Deutschland in Richtung Ägypten zu verlassen und in Kairo für sechs Jahre an einer deutschen Schule Kunst zu unterrichten. Beide wirkten im Anschluss für lange Jahre als Kunsterzieher in der Region: Frieder Kerler am Mörike-Gymnasium in Göppingen, Bertl Zagst am Georgii-Gymnasium in Esslingen. Das freie künstlerische Arbeiten und ihre Ausstellungstätigkeit neben ihren Lehrverpflichtungen führte die beiden Künstler immer wieder in unterschiedlichen Kontexten zusammen. So auch jetzt anlässlich des Projektes poly.phon des Vereins Artgerechte Haltung Bildender Künstler e.V., im Rahmen dessen, die lange Betonwand im Kulturzentrum Dieselstraße heute bereits zum fünften Mal als Projektionsfläche künstlerischer Vielstimmigkeit bespielt wird.

Wie nutzen nun Frieder Kerler und Bertl Zagst unter der thematischen Setzung „Vom Versuch eine Linie zu ziehen“ dieses Raumangebot?

Anfang und Abschluss der Wandchoreographie bilden zwei Arbeiten von Frieder Kerler: ganz links der Videoloop „Schattenlinie“ von 2015, der aus einer am Wannsee aufgenommenen Filmaufnahme von 2012 entstand und ganz rechts das erste Werk mit dem Titel „Vom Versuch eine Linie zu ziehen“ aus dem Jahr 2016, als früheste Adaption der Videoaufnahme.  Zwischen diesen beiden Polen entwickelt Kerler ein ganzes Spektrum von Geschichten, die in immer neuer Gestalt die bewegte Linie variieren und mit Bedeutung aufladen.

Mit der Videokamera hat er lineare Strukturen im Wasser aufgenommen, in diesem Fall hervorgerufen durch eine Stange am Ufer, die sich unruhig in den Wellen spiegelt und vielfach gebrochen, in alle Richtungen ausgreift. Dieses Video, ist für Kerler Anlass, malend und zeichnend über den Charakter der Linie und ihre Funktionen nachzudenken. Er widmet diesem Thema eine ganze Serie von Arbeiten, die hier durch eine Auswahl von fünf Objekten vertreten ist,  übrigens alle mit dem gleichen Titel, der auch der gesamten Ausstellung ihren Namen gegeben hat. Auffallend ist, dass Kerler seine Bildfläche behandelt wie die aufgeschlagene Doppelseite eines Buches. Schon dieses Flächenarrangement verweist auf das narrative Element in seinem Werk, wie auch auf eine andere Facette seines Schaffens: die Gestaltung von Druckwerken und die Freude an der Schrift.

Fixpunkte in seinen Bildern sind die gemalte Mittellinie, die variierte räumliche Teilung der Bildseiten, das Auftauchen von Porträts, häufig angelehnt an historische Werke aus der Kunstgeschichte, Fotografien oder Videostills sowie als Kontrapunkt Flächen mit gegenstandsloser, gestischer Malerei. Anders als ein schlüssig erzähltes literarisches Werk bleiben Kerlers bildnerische Erzählungen rätselhaft und überlassen es dem Betrachter, sich durch genaues Schauen und mit Einfühlung seiner oder einer eigenen Geschichte zu nähern.

Ein Beispiel: Das Bild „Vom Versuch eine Linie zu ziehen“ in der Wandmitte: Zwei Titanen der Kunst des 20. Jahrhunderts sind zu erkennen. Joseph Beuys und Alberto Giacometti. Beuys mit Bleistift nach einer berühmten Portraitfotografie gezeichnet, richtet den Blick aus seiner Bildhälfte direkt auf den Betrachter. Giacometti, in Rotbraun- und Grautönen aquarelliert, kleiner, im Profil angelegt, schaut versonnen in Richtung seines später geborenen Künstlerkollegen.  Beide Bildseiten weisen eine Dreiteilung auf: Zwei schmale, leere, bzw, leicht grau angelegte Felder oben und unten, dazwischen die größeren Tableaus für die Porträtierten. Eine Zäsur bildet die von oben nach unten verlaufende gemalte, bzw. mit einer gebogenen Holzrolle aufgetragene farbige Linie. Ihr Anfang oben ist mit den Buchstaben A und Alpha bezeichnet. Ihr Ende mit den Buchstaben Z und Omega. Welche Rolle nimmt die Linie hier ein? Trennt sie, verbindet sie? Verweist sie auf eine bestimmte zeitliche Strecke, die in der Kunst durch Giacometti und Beuys mitgeprägt wurde? Giacometti stand der Philosophie der „condition humaine“ nahe und ließ seine Gedanken zu den Umständen des Menschseins in seine Skulpturen einfließen. Joseph Beuys forderte Jahre später jeden Menschen auf, selbst gestaltend auf die Gesellschaft einzuwirken und ging mit seinem Konzept der „Sozialen Plastik“ soweit, die Verantwortung für Kunst und Leben in die Hände jedes Einzelnen zu legen.

Frieder Kerler gibt uns keine endgültigen Interpretationshilfen, seine Bildschöpfungen sind offen und bieten Raum für eigene Gedanken und Fragen. Dies gilt gleichermaßen für die anderen Bilder dieser Reihe, die uns immer mindestens zwei Seiten einer Medaille zu zeigen scheinen, begrenzt und gespiegelt durch die Linie. Die Präsenz der Linie ist es, die uns quasi zum Doppelsehen zwingt und dazu, sich im Schauen nicht zu begrenzen.

Ähnlich komplex treten uns die Arbeiten von Bertl Zagst entgegen. Er zeigt in dieser Ausstellung zwei Werkgruppen: Drei fotografische Werke aus der Serie „Streets“ und vier dreidimensionale Objekte aus Eisendraht und Acrylfarbe.  In beiden operiert er mit der Linie im weitesten Sinne. Bertl Zagst ist ein genauer und neugieriger Beobachter seines räumlichen Umfeldes, sowohl in Esslingen, als auch auf seinen zahlreichen Reisen. Kleinste, unauffällige Details im und auf dem Straßenpflaster, im Asphalt oder auf Straßenmarkierungen, an denen täglich hunderte Menschen achtlos vorbeigehen, fokussiert er mit seiner Kamera und bringt die ihnen eigene, Schönheit zur Geltung. Seine Fotos der Streets-Reihe sind Dokumente sensibler Wahrnehmung und eines wachen Blicks für die Ästhetik des Unscheinbaren. Aber das ist nur ein Aspekt dieser vielschichtigen Collagen.

Unverkennbar ist, dass die bisweilen digital nachbearbeiteten Fotos von einem Maler und Zeichner gesehen, aufgenommen und arrangiert wurden. Die Zusammenstellung der jeweils acht Fotos ergibt je ein Bild, wovon jedes sehr genau komponiert und durchdacht wurde. Assoziationen drängen sich geradezu auf, vor allem an die Kunst des Informel: an die flächigen, farblich reduzierten Gemälde von Antoni Tapies, die abstrakten schwarzen Linienspiele von Hans Hartung, aber auch an die rauen Texturen der gegenständlichen Materialbilder Anselm Kiefers.

Vergänglichkeit, Veränderung, Erneuerung sind Begriffe, die den Fotografien Bertl Zagst‘s zuzuordnen wären. Und es sind vor allem die linearen Elemente, die eine Interpretation in dieser Richtung nahelegen. Die mittlere der drei Streets-Tableaus etwa entstand zum größten Teil auf den Straßen von Paris. Was ist zu sehen? Grobkörniger Straßenbelag, raue Betonflächen, sich abwechselnd mit elefantenhautartigen Teerschichten, geglättete, zugedeckte Strichzeichen, mäandernde, fadendünne Rinnsale, die unter weißen Markierungen aufscheinen, sich netzartig ausweitende Risse, einzelne farbige Linien, Zahlen und das überraschende Rot eines weggeworfenen Klebestreifens unter grau verfließender Zementbrühe. Zagst gelingt mit seinen Fotos vom Form- und Farbenspiel der Straße die Transformation des Alltäglichen in eine Metapher für den unaufhaltsamen Wandel und die Unbeständigkeit aller menschlichen Interventionen.

Die zweite Werkgruppe von Bertl Zagst umfasst vier Objekte aus gebogenen Eisendrähten, die nun ganz eindeutig mit der Linie in der dritten Dimension spielen. Er entwickelt seine Drahtkompositionen auf grob gestrichenem, weißem Untergrund, der schon für sich ein subtiles Licht- und Schattenszenario entfaltet. Darauf verankert er die dunklen Eisendrähte zu rasterartigen oder amorphen Formen oder lässt auch nur eine einzige Drahtlinie wirken. Entscheidend ist, dass Zagst die Drähte nicht in Gänze auf den Untergrund montiert, sondern sie reliefartig vom Bildträger abhebt. Ihrem Schattenwurf auf dem Weiß des Untergrundes folgt er zum Teil mit schwarzer Acrylfarbe und erreicht so, unter entsprechendem Lichteinsatz, ein mindestens dreifaches Linienspiel.

Wie die Streets-Serie sprechen auch diese Arbeiten von Vergänglichkeit, Veränderung und Erneuerung. Denn Bertl Zagst verwendet für seine Kreationen keine ladenfrischen Drähte, sondern bedient sich Materials, das schon in anderen Kontexten Bedeutung hatte und verwandelt es zu etwas Neuem, ohne das Alte völlig vergessen zu machen. So etwa im Bild „Drahtschatten III“, fast am Ende der Wand. Viele von Ihnen werden sich an die Installation „Cloud“ erinnern, jene goldglitzernde Wolke, die er 2014 zunächst für das Münster St. Paul in Esslingen schuf und die im Folgenden temporär auch in anderen Kirchen in Esslingen und der Region schwebte. Das Bild „Drahtschatten III“ zeigt nun, was die Wolke – frei nach Goethe „im Innersten zusammenhielt“ – ein transparentes Gerüst aus Draht, ihr eisernes Rückgrat – unspektakulär und weit entfernt von der goldenen Hülle, die es einst umgab. Und dennoch: was Zagst dort aus der Rundung in die Fläche gebogen hat, entwickelt ein Eigenleben. Der goldene Schein ist Vergangenheit, aber das Innerste, in die Fläche aufgefaltet, ist noch da und überrascht mit ganz neuen Ein- und Durchsichten. Das unregelmäßig gebogene Gitter, dessen Felder in unruhiger Ordnung die zweigeteilte Bildfläche überziehen, wird zum unteren Bildrand malerisch aufgegriffen und ihm so eine zweidimensionale Basis gegeben. Der Eisendraht verweist noch auf die Wolke, deren Tragkonstruktion er einmal war, aber durch seine Transformation in ein luzides Relief, erweitert Zagst seine ästhetische Qualität und öffnet den Blick, für das was erst jetzt möglich wird: die vorher verborgene Eisenlineatur wird nun zum raumbildenden Element und unter dem Spiel von Licht und Schatten selbst zum Leuchten gebracht.

Frieder Kerlers lineare Spiegelungen gepaart mit subtilen Motivarrangements und Bertl Zagst’s verdinglichte Drahtlinien und fotografierte Alltagslineamente – sie verbindet der grundsätzliche Zugang zur Linie. Für beide Künstler ist die Linie wandelbar, sie generiert Bewegung und Gegenbewegung, sie kann zerlegt, zusammengefügt, gegliedert, gebrochen werden, kann Objekt sein oder Spiegelung. Darüber hinaus offerieren die Linien in den Werken von Frieder Kerler und Bertl Zagst verschiedene mögliche Sinnebenen und bieten uns so Ansatzpunkte zum Versuch einer Deutung.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Angela Zieger_11/2018